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AutorenbildRolf Dietrich

Geschichten zum Vorlesen für Demenzkranke - Der Berg ruft

(Eine Geschichte um alte Ängste abzulegen, von Rolf Dietrich)


Die Wörter und Satzteile, die betont werden sollen, sind im Text kursiv und fett dargestellt. Insgesamt sollte die Geschichte sehr ruhig und langsam vorgetragen werden. Die Punkte zeigen an, wann und wie eine Pause gemacht werden sollte.


Die Berge haben auch heute noch eine große Faszination für uns Menschen. Unser Berg, den wir jetzt erklimmen, hat etwas Besonderes, Einmaliges. …

Wir atmen noch ein paar Mal tief und kräftig ein und aus, bevor wir uns auf den Weg machen. Jeder von uns hat seinen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Heute werden wir etwas los, dass wir schon ganz lange mit uns herumtragen. ……


Unser Bergführer Georg spricht uns alle noch einmal an. „Schaut euch noch einmal um, betrachtet noch einmal hier die Wiese mit dem leuchtenden Grün und den bunten Blumen. Da oben wollen wir hin. Seht ihr die Hütte da oben, die ist unser Ziel. Der Herrgott hat uns tolles Wetter geschenkt. Auf geht’s! Er geht vor und wir gehen alle hintereinander in einem ganz ruhigen Tempo. …


Georg stapft langsam aber stetig zum Rande des Berges. Zwischen den Bäumen ist ein kleiner Weg zu erkennen. Es ist angenehm warm, gerade so, wie man es für so eine Wanderung braucht. …


Der schmale Weg steigt nur gemächlich an. Alle laufen hintereinander in einer angenehmen Geschwindigkeit. Dieser ruhige, gleichmäßige Schritt gibt ein Gefühl von Sicherheit. …


Nach einiger Zeit hält die Gruppe noch einmal an. „Ist noch alles in Ordnung bei euch?“ lautet seine Frage. „Nutzt den Weg, um über das Nachzudenken, was ihr loswerden wollt. Jeder für sich und ganz in Ruhe.“ ……


Mit diesen Worten dreht er sich um und biegt in den nun etwas breiteren Weg ein. Niemand spricht mit den anderen Wegbegleitern. Jeder ist in seine Gedanken versunken. Es ist ganz still. ……

Vielleicht kommt ein Gedanke über den Weg und was wir hier tun in unseren Kopf. Das ist ganz normal. ……


Stück für Stück erkennen wir, dass es bei dieser Wanderung um das Loslassen von Ängsten geht. ……


Jeder hat seine eigenen Ängste und es ist gut zu spüren, dass man nicht alleine mit seinen Ängsten durch die Welt geht. … Viele Menschen haben Ängste und besonders die ganz alten Ängste machen uns immer wieder zu schaffen. Jetzt ist aber der Zeitpunkt gekommen, wo es möglich ist, die alten Ängste abzulegen. ……


Jeder kann seine alten Ängste in den Rucksack packen. Und es ist gut zu spüren, wie unser Innerstes dies zu lassen kann. Es ist als ob wir eine Vereinbarung mit unserer Seele getroffen haben, heute die alten Ängste in den Rucksack zu packen. Das tut gut. Denn diese Ängste haben uns bisher immer wieder belastet. ……


Wenn man so in Gedanken versunken ist, spürt man gar nicht mehr den Anstieg, den man bei dieser Wanderung zu bewältigen hat. Er wird zur Nebensächlichkeit. … Die Gruppe hat nun ein Plateau erreicht, von dem man einen wunderbaren Blick auf das Tal werfen kann. Jetzt erkennen wir, welche große Wegstrecke wir schon zurückgelegt haben und welchen Anstieg, wir schon gemeistert haben. ……


Georg zeigt noch einmal zur Hütte. „Der Weg ist gar nicht mehr so weit. Bald haben wir unser Ziel erreicht. Ich hoffe, ihr habt die Zeit schon genutzt und euren Rucksack gut gefüllt. Wenn nicht dann könnt ihr dies im nächsten Teilstück des Weges tun.“……


Mit diesen Worten greift er seinen Rucksack und schreitet der Gruppe wieder voran. Irgendwie wirken alle schon etwas leichter. Denn alle können ihm gut folgen. Die Sonne begleitet uns immer noch mit ihren angenehmen, warmen Strahlen auf unserem Weg. Wieder fallen wir ganz allmählich in Gedanken. ……


Wir schauen nach, ob es da noch etwas gibt, das wir an alten Ängsten loswerden wollen. Das was wir jetzt noch in unserem Inneren wahrnehmen, können wir geruhsam in den Rucksack ablegen. ……


Als wir um die Ecke biegen, erkennen wir schon eine große Holzhütte, die sehr einladend wirkt. Als wir dort ankommen, sitzt ein alter Mann vor der Tür. Er hat sich in den Schatten zurückgezogen und gibt uns die Anweisung, unsere Rucksäcke mit den alten Ängsten an der Bergseite abzulegen. …. Er werde sich darum kümmern. … Alles, was dort drin ist, wird von ihm entsorgt. Wir können einfach ausruhen und einen Blick in das wunderbare Tal werfen. ……

Dieser Blick ist großartig. Von ihr oben wirkt alles ruhig und friedlich. … Nichts ist mehr da, was uns Sorgen machen muss. ……


Wir fühlen gelöst und ganz entspannt. …

Das, was uns sonst so belastet hat, scheint von unseren Schultern genommen. ……


Der alte Mann bittet uns alle noch einmal uns zusammenzusetzen. Er möchte noch ein paar Worte an uns richten, bevor wir den Abstieg in Angriff nehmen.


(Hier besteht die Möglichkeit die Geschichte zu unterbrechen)


Fortsetzung


„Ihr habt eure alten Ängste mit nach hier gebracht. Jahrelang habt ihr geglaubt, dass es keine Möglichkeit gibt diese Ängste loszuwerden. Doch ihr seht es ist möglich. … Das, was jetzt zählt, ist das was ihr jetzt tut, nicht das was ihr in der Vergangenheit getan habt. ……


Die Vergangenheit loszulassen ist eure Möglichkeit, noch einmal euer Leben zu betrachten und jetzt ohne diese Lasten euren Weg zu gehen. … Eure Seele ist bereit loszulassen und hat die alten Ängste in eure Rucksäcke gesteckt. Und dort sollen sie bleiben. Jetzt geht euren Weg mit Leichtigkeit und Gelassenheit!“……


(Auch an dieser Stelle ist eine Unterbrechung möglich)


Fortsetzung


Irgendwie ist alles anders, leichter, lockerer und zufriedener. ……


Die Worte des alten Mannes hallen noch nach, als wir uns an den Abstieg begeben. Georg geht wieder voran.

Vorher hatten wir gar nicht großartig auf die Natur geachtet, durch die wir gewandert sind. Jetzt hört man die Tiere des Berges. Ein Adler stößt spitze Schreie aus. Majestätisch kreist er in großer Höhe über uns. Die Freiheit des Adlers ist körperlich zu spüren. ……


Die Bäume an unserem Weg wiegen sich in den sanften Wellen des Windes. Das leuchtende Grün der Blätter lässt die langsam untergehende Sonne noch angenehmer erscheinen. … Unter unseren Füßen wird das Gestein weniger und das Gras bahnt sich den Weg. … Es fällt leicht den Weg ins Tal zu finden. Es scheint als sei alles neu, aber doch irgendwie bekannt. … Wir spüren eine innere Freiheit und ein Gelöst sein und können uns jetzt auf neue Dinge vorbereiten. ……


Nach kurzer Zeit erreichen wir dann das Tal mit der grünen Wiese und den bunten Blumen. Georg entlässt uns hier in unsere neue Zukunft. Wir schauen uns alle noch einmal an und sehen bei allen eine gewisse Entspannung und Ruhe. ……


WIR HABEN ES GESC HAFFT!


Der Berg ruftEine Geschichte um alte Ängste abzulegen, von Rolf Dietrich

 

Diese Blogbeiträge bilden eine ganze Reihe von Geschichten, die darauf abzielen, durch Erzählungen einen Zugang zum inneren Erleben von Demenzerkrankten zu ermöglichen. Das Hauptziel ist es, ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse und Kompetenzen wiederzuentdecken und für sie hilfreiche Optionen zu entwickeln.


In dieser Reihe nehmen die Demenzerkrankten eine besondere Rolle als Entdecker ihrer eigenen Ressourcen ein. Als Unterstützer und Helfer bieten wir immer wieder neue Geschichten an, um ihnen Zugänge zu eröffnen. Diese unkonventionelle Herangehensweise kann eine gravierende Veränderung der Situation bewirken und zeigt dabei ein hohes Maß an Wertschätzung für die Würde der betroffenen Personen.


Meine eigene Erfahrung mit Demenzerkrankten wurde vor vielen Jahren geprägt, als meine Patentante 1994 an Krebs erkrankte und Anzeichen von Demenz zeigte. Während meiner Besuche erzählte sie mir Geschichten aus meiner Kindheit und von den gemeinsamen Erlebnissen. In diesen Momenten wirkte sie klar und fröhlich.


Im Laufe der Zeit verschlechterte sich jedoch ihr Zustand sowohl körperlich als auch geistig. Ihre Tochter, die sich um sie kümmerte, tat ihr Bestes, um sie zu unterstützen.


Die von uns gemeinsam festgelegten Rollennamen "kleiner Zwerg" für mich und "Schneewittchen" für sie begleiteten uns auch in den fortgeschrittenen Phasen der Demenz. Selbst während ihrer letzten Lebensphase erkannte sie mich in dieser Rolle. Andere Personen verloren für sie immer mehr an Bedeutung. Doch die Geschichten boten bis zum Schluss die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten.


In dieser Reihe von Blogbeiträgen möchte ich Ihnen als Geschichtenerzähler die Fähigkeit wünschen, wunderbare Zugänge und Kontakte zu den von Ihnen ausgewählten Menschen zu schaffen.


Oktober 2014 Rolf Dietrich









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