Verloren in der eigenen Welt – Wenn Demenz zu Aggression führt
- M. Vatamanu
- 28. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Viele Angehörige erleben es mit großem Schmerz: Ein Mensch, der früher freundlich, humorvoll oder sanftmütig war, wird plötzlich laut, ungeduldig, vielleicht sogar aggressiv. Es entstehen Situationen, die man sich früher nie hätte vorstellen können – Anschreien, Abwehren, vielleicht sogar ein Schlag. Und immer wieder die Frage: Warum?
Diese Veränderung ist für das Umfeld oft schwer zu verstehen. Aber noch schwerer ist sie für den Menschen selbst, der von Demenz betroffen ist.
Die Welt verliert ihre Ordnung
Eine demenziell veränderte Person erlebt ihre Umwelt mit zunehmender Unsicherheit. Dinge, die früher selbstverständlich waren – der Ablauf des Tages, das eigene Zuhause, die Menschen um sie herum – wirken plötzlich fremd oder verwirrend. Die Sprache verliert an Klarheit. Handlungsabläufe geraten durcheinander. Zeitgefühl, Orientierung, Selbstverständnis – alles gerät ins Wanken.
Das löst nicht nur Verunsicherung aus, sondern oft auch ein tiefes Gefühl von Kontrollverlust.
Stellen Sie sich vor, jemand spricht mit Ihnen in einer Sprache, die Sie nicht mehr verstehen. Man fasst Sie an, ohne zu erklären warum. Sie wissen nicht, was als Nächstes passiert. Ihr Kopf ist voller Nebel, aber Ihr Körper reagiert. Dann ist Widerstand oft die letzte Form von Selbstbehauptung.
Wenn das Innenleben nach außen bricht
Was von außen wie „ungehobelt“, „ungezogen“ oder „respektlos“ wirken mag, ist in Wahrheit oft ein Ausdruck von:
Angst – weil man sich bedroht fühlt, ohne genau sagen zu können, warum
Scham – weil man merkt, dass etwas nicht stimmt, aber keine Kontrolle darüber hat
Frust – weil man immer wieder scheitert, obwohl man sich doch bemüht
Einsamkeit – weil sich die Welt langsam zurückzieht, man aber nicht sagen kann, wie weh das tut
Reizüberflutung – weil Lärm, Licht, Stimmen und Erwartungen einfach zu viel sind
Der Mensch spürt all das – aber er kann es nicht mehr in Worte fassen. Was bleibt, ist das, was der Körper tun kann: Laut werden. Sich wehren. Ablehnen. Fliehen oder kämpfen.
Kein böser Wille – sondern Schutzreflex
Es ist wichtig, sich klarzumachen: Diese Reaktionen sind keine bewussten Entscheidungen. Es sind Schutzmechanismen, ausgelöst durch das, was im Inneren geschieht. Aggressives Verhalten bei Demenz ist nicht „gegen uns“ gerichtet – es ist ein Versuch, sich selbst zu schützen.
Was früher ein ruhiger, höflicher Mensch war, ist nicht plötzlich „anders geworden“. Er oder sie ist immer noch da – nur in einer anderen Welt, mit anderen Herausforderungen. Die Persönlichkeit geht nicht verloren, sie wird überlagert von der Unsicherheit, dem Kontrollverlust, der emotionalen Not.
Einfühlsam bleiben – auch wenn es schwerfällt
Es ist menschlich, auf Ablehnung oder Wut verletzt zu reagieren. Doch gerade in solchen Momenten ist unser Einfühlungsvermögen besonders gefragt. Denn: Was Menschen mit Demenz in schwierigen Phasen brauchen, ist nicht Korrektur, sondern Sicherheit, Verständnis und innere Ruhe im Gegenüber.
Wenn wir lernen, nicht auf das Verhalten zu reagieren, sondern auf das Gefühl dahinter, kann ein aggressiver Moment zur Chance werden: zur Verbindung auf einer tieferen, nicht-sprachlichen Ebene. Zu einem Moment, in dem wir zeigen: Du bist sicher. Ich sehe dich. Ich verstehe deine Angst.
Fazit
Aggression bei Demenz ist oft kein Ausdruck von Bosheit, sondern ein Zeichen innerer Not. Ein früher lieber Mensch wird nicht plötzlich „anders“ – er kämpft mit einem unsichtbaren Verlust an Klarheit, Selbstständigkeit und Vertrauen. Was er braucht, ist nicht Strenge oder Strafe, sondern Halt, Geduld und liebevolle Präsenz.
Wenn wir das erkennen, fällt es leichter, schwierige Momente nicht persönlich zu nehmen – und stattdessen mit Herz und Respekt zu begegnen.
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Miteinander Mensch bleiben – auch wenn Worte fehlen...
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